Eine gute Miteinanderkultur im Landkreis bewahren

So lautete der Titel für eine von der Linken beantragten Aktuelle Stunde im Kreistag von Marburg-Biedenkopf. Es sollte u.a. über das gemeinsame Zusammenleben vor Ort gesprochen werden. Aber da hier eigentlich gar nicht diese Themen Anlass für den Antrag waren, wie aus der Begründung des Antrags hervorgeht und in einer aktuellen Stunde keine Debatte möglich ist, habe ich den folgenden Redebeitrag nicht gehalten:

Ja, liebe Linke, liebe KuK, eine gute Miteinanderkultur und eine öffentliche demokratische Auseinander-setzung über Kriege, Fluchtursachen und das gemeinsame Zusammenleben sind auch hier bei uns im Landkreis ein aktuelles Thema. Erst recht, angesichts von einem zunehmenden gesellschaftspalterischem Populismus und von Hass und Hetze. Reden wir also über Miteinanderkultur, Kultur des achtsamen Miteinanders wird es in den christlichen Kirchen genannt.

Oder anders: Artikel 1 stellt den Grundrechten „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ voraus. Zu den Menschenrechten gehören bürgerliche und politische Freiheits- und Beteiligungsrechte, unter anderem das Recht auf Leben, das Verbot der Folter, die Religions-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und die Gleichheit vor dem Gesetz. Das sind die Grundlagen unserer Verfassung für ein gutes Miteinander unabhängig davon, woher jemand kommt, lKuK. Es gibt kein „gleicher“ für einige Menschen.

Deutschland hat seit vielen Jahrhunderten Zuwanderung aufgrund von Flucht und Vertreibung, wegen religiöser Verfolgung, Kriegen und Katastrophen, aber auch durch Besatzung erfahren: Hugenotten und Waldenser, Römer und Franzosen, Ungarn und Tschechen, Amerikaner und Briten. Zum Arbeiten mit Kohle und Stahl kamen Polen vor über hundert Jahren – und heute als Handwerker und Pflegekräfte wieder, spä-ter Türken, Italiener, Spanier und – wie sie damals noch genannt wurden – Jugoslawen u.v.m. kamen zu uns.

Weit genug zurück, hat jeder von uns einen Migrationshintergrund. Ich, als Frankfurter bin im multikulturellen Rhein-Main-Gebiet aufgewachsen, hatte gerade 45jähriges Abiturjahrgangstreffen. Die Herkunft meiner Mitschüler:innen war damals wie heute für das Miteinander egal. Manche hatten später meinen Vater, der selbst als Flüchtling mit Mutter und zwei Geschwistern nach dem Krieg nach Frankfurt kam, als Patienten. Seine Mutter hat viermal am gleichen Ort die Staatsangehörigkeit gewechselt. Einerseits hat Deutschland eine große Integrationsleistung vollbracht, andererseits gab es bei allen zu Beginn Fremden Anfeindungen und Missbrauch. Auch gegenüber denen, die durch Flucht und Vertreibung nach dem zweiten Weltkrieg zu uns kamen, lKuk.

1950 als Basis genommen, haben 23,8 Mio. unserer Mitmenschen einen Migrationshintergrund, davon sind 10 Mio. Deutsche, viele Spätaussiedler. Von den 13,8 Mio. ohne deutschen Pass kommen die meisten, 3,6 Mio. aus EU-Staaten (Rumänien, Polen, Italien, Kroatien, Bulgarien, Griechenland), weit vor 1,5 Mio. Türken, 1,1 Mio. Ukrainer und all den kleineren Gruppen. Die Realität führt uns grausam vor Augen, dass auch heute und morgen Menschen unseren Schutz vor Kriegen und Katastrophen brauchen, völlig gleich wer und woher und gleich wie sehr wir uns überall Frieden wünschen.

Der Eindruck, der populistisch vermittelt wird, ist ein komplett anderer. Wer nach Herkunft und Flucht-grund fragt, erfährt ein auf den Kopf gestelltes Bild und völlig falsche Relationen: Von aktuell 110 Millionen auf der Flucht weltweit haben 0,2% bei uns Asyl beantragt, nur ein Bruchteil der Zahl von 2015/2016, keine „Menschenmassen.“ Auch von den 8,3 Millionen aus der Ukraine vor dem Krieg Geflohenen, sind es 87% in andere Länder. Der populistisch vermittelte falsche Eindruck vergiftet das gemeinsame Zusammenleben. Menschen, deren Aussehen nicht den gewünschten Normen entspricht, können sich bei uns nicht sicher fühlen: Der syrische Arzt, die syrische Ärztin außerhalb der Klinik, nordafrikanische oder zentralasiatische Pflege- und Betreuungskräfte abends in der Stadt nach Besuch eines Konzertes oder Restaurants, Fußballer:innen und Musiker:innen außerhalb von Stadion und Konzertsaal, wo sie geschätzt sind.

Die Menschenrechte, der Gleichheitsgrundsatz unserer Verfassung verlieren so im Alltag unserer Gesellschaft immer mehr an Bedeutung: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Ich kann den Artikel nicht oft genug zitieren. Unsere Geschichte verpflichtet uns dazu, gegen Faschismus und Rassismus einzutreten. Und dies angesichts von Hass und Hetze bis in unsere Parlamente mehr als je seit dem Ende des faschistischen Deutschlands 1945, lKuk.

Alle, denen die diese Grundrechte nicht so wichtig sind, sollte ein ganz egoistischer Aspekt interessieren: Seit über einem Jahrzehnt fehlen, wie die Wirtschaftswissenschaft vergeblich warnte, jedes Jahr mindestens 200.000 Zuwanderer, um in Deutschland Renten und Wohlstand zu sichern. Die Boomer-Generation, meine Generation geht in Rente und fehlt zunehmend dem Arbeitsmarkt. Schon 2025 wird sich dies dramatisch bemerkbar machen. Warum sollen angesichts von Abschottung und Rassismus diejenigen freiwillig zu uns kommen, um die wir betteln. Sie können auch dorthin, wo sie willkommener sind. Die von Krieg, Verfolgung und Katastrophen Geflüchteten zu integrieren und zu qualifizieren schafft vielleicht in den anderen das Vertrauen, dass Deutschland wieder zu einem humanistischen oder, wie es manche lieber sagen mögen, zu einem christlichen Menschenbild zurückkehrt. Wir müssen als Demokraten alles dafür tun – auch hier im Landkreis, auch hier im Kreistag!

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